• 21.10.2025
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Wie E-Commerce-Händler nachhaltiger versenden – und was sie das kostet

Vier Milliarden Pakete, eine Million Tonnen Verpackung – und immer mehr Regulierung: Der Onlinehandel in Deutschland steht vor einer unbequemen Wahrheit. Wer nachhaltig verpacken will, muss investieren. Eine neue Studie von BVL und 4flow zeigt, wie Händler Kosten und Emissionen senken können – zumindest in der Theorie.
Versandoptimierte Kartons für Elekroartikel von Bosch
Für Bosch Power Tools entwickelt die STI Group aus Lauterbach separate Verpackungskonzepte für Handel und E-Commerce – passgenau optimiert für Regalwirkung und Versandeffizienz.

Die klassische Pappkiste ist ökologisch wie ökonomisch ein Auslaufmodell, hebt eine Studie der Bundesvereinigung Logistik (BVL) und 4flow hervor. Versandtaschen aus Papier oder Kunststoff verursachen bis zu 80 Prozent weniger CO₂-Emissionen. „Der häufig genutzte Standardkarton aus Wellpappe schneidet aufgrund seines vergleichsweise hohen Materialverbrauchs schlechter ab. Allerdings müssen Umweltwirkungen jenseits von reinen CO₂-Emissionen bei kunststoffbasierten Verpackungen stets mitgedacht werden“, heißt es in der aktuellen BVL-/4flow-Studie „Verpackung im E-Commerce nachhaltig gestalten“.

Doch das klingt einfacher, als es ist. Denn wer Verpackungsmaterial sparen will, muss seine Prozesse umbauen. Die sogenannte Empty Space Ratio (ESR) – also der Leerraumanteil in Versandkartons – liegt laut Studie durchschnittlich bei 30 bis 40 Prozent. Bei Modeartikeln liegt sie bei 18 Prozent, bei Glaswaren jedoch bei 64 Prozent.

Immerhin will die EU-Verpackungsverordnung (PPWR) ab 2030 die ESR auf maximal 50 Prozent Leervolumen begrenzen. Das zwingt Händler, ihre Packprozesse neu zu denken – und meist auch neue Maschinen anzuschaffen. Automatisierte 3D-Zuschnittsysteme, die Kartons individuell auf die Produktgröße anpassen, senken laut Studie die Verpackungskosten um bis zu 50 Prozent. Eine moderne Anlage kostet allerdings einen hohen bis mittleren sechsstelligen Investitionsbetrag in Euro (der unter Umständen auch auf sieben Stellen steigen kann) – und rechnet sich erst bei hohem Durchsatz. „Automatisierungslösungen bieten für viele Produktarten bei hohen Durchsätzen ökonomische Vorteile im Verpackungsprozess. Bei der Bewertung der ökologischen Vorteilhaftigkeit müssen die spezifischen Voraussetzungen des Händlers miteinbezogen werden“, so Andreas Hennig, Director Fulfilment Marl bei Thalia, in der BVL-Studie. Kleinere Händler schauen da in die Röhre.

 

Rezyklate ja – aber zu welchem Preis?

Auch bei der Materialwahl ist der Weg zur Nachhaltigkeit steinig. Leichtes, rezyklathaltiges Papier oder Kunststoffbeutel sollen CO₂ einsparen, doch der Einkaufspreis liegt oft 10 bis 15 Prozent über herkömmlicher Ware. Viele Lieferanten können derzeit gar keine gleichbleibende Qualität garantieren. Und die PPWR verschärft den Druck: Ab 2030 müssen alle Versandverpackungen recyclingfähig sein, ab 2035 drohen Strafabgaben für Mischmaterialien. In Deutschland werden heute rund 90 Prozent der Papier- und 65 Prozent der Kunststoffverpackungen stofflich verwertet – auf dem Papier eine gute Quote. Aber das Rezyklatangebot bleibt knapp, weil die Nachfrage explodiert und in Deutschland derzeit das Kunststoffrecycling vor dem Kollaps steht. Wer also rechtzeitig umstellen will, braucht langfristige Lieferverträge, Testreihen und Zertifizierungen – alles Kosten, die erst einmal niemand sieht, bis sie in der Bilanz auftauchen.

 

Mehrweg: ökologisch sinnvoll, wirtschaftlich ein Problemfall

Besonders heftig fällt das Urteil über Mehrwegverpackungen aus. Zwar erreichen Mehrwegboxen laut Studie den CO₂-Break-even bereits nach fünf Umläufen, Beutel nach sieben. Doch wirtschaftlich bleibt das Konzept defizitär. Die Rückführung der leeren Verpackung frisst den Kostenvorteil auf – ganz zu schweigen vom Reinigungs- und Handlingaufwand. Die Mehrwegpioniere – etwa RePack, Heycircle oder Multiloop – arbeiten an Rückgabesystemen über Paketshops und Sammelstellen. Aber solange kein flächendeckendes Netz existiert, bleibt der Mehrweg ein Nischenphänomen.

„Ökologisch kann der Umstieg auf Mehrweg in vielen Fällen schon heute sinnvoll sein. Für den wirtschaftlichen Erfolg braucht es jedoch ein flächendeckendes Rückgabesystem und die Akzeptanz der Verbraucherinnen und Verbraucher – nur so lassen sich Rücktransport und Logistik effizient gestalten,“ lautet dazu in der bereits zitierten Studie die Aussage von Daniela Bleimaier, Leiterin Public Affairs Deutschland & Regionales beim Bundesverband E-Commerce und Versandhandel (bevh). Händler stehen zudem vor einer psychologischen Hürde: Wird der Rückversand zu kompliziert, sinkt die Rückgabequote. Und eine Mehrwegverpackung, die beim Kunden liegen bleibt, ist der ökologische GAU.

 

Versand ohne Umverpackung – nur auf den ersten Blick elegant

Das Idealbild der Studie lautet: Versand in der Produktverpackung, also ganz ohne zusätzliche Transporthülle. Der Gedanke ist charmant – keine Luft, kein Karton, kein Füllmaterial. Doch praktikabel ist das nur bei etwa 30 Prozent der Produkte, schätzen die Autoren der Studie. Mode, Bücher, hochpreisige Elektronik oder sensible Güter scheiden aus. Hinzu kommen Sicherheits- und Datenschutzaspekte: Nicht jeder möchte, dass der Nachbar am Paket erkennen kann, was geliefert wurde. Und selbst bei geeigneten Artikeln bleibt das Risiko von Transportschäden – eine Retourenquote von 40 Prozent im Fashion-Segment spricht Bände. „Produkthersteller wissen am besten, ob ihre Verpackungen bereits geeignet sind, Schutzanforderungen und Erwartungen der Kunden zu erfüllen. Ein entsprechendes Label ‚Empfohlen für Versand in der Produktverpackung‘ würde einen schnellen und umfassenden Verzicht auf unnötige Transportverpackungen erheblich erleichtern“, betont Markus Mehrtens, Head of Logistics Sourcing & Partners bei MediaMarktSaturn, in der vor kurzem veröffentlichten BVL-Studie.

Wie differenziert E-Commerce-Verpackung heute längst gedacht und umgesetzt werden kann, zeigt das Beispiel der STI Group aus Lauterbach in Hessen für Bosch Power Tools. Der Hersteller entwickelt für seine Messgeräte künftig zwei Verpackungslinien – eine für den stationären Handel und eine speziell für den Online-Vertrieb. Während im Handel ein brillantes Druckbild, Produktabbildungen und Informationsvielfalt im Vordergrund stehen, zählt im E-Commerce vor allem Robustheit und logistische Effizienz. Die neue Versandverpackung ist für SIOC („Ships in Own Container“) ausgelegt – sie kommt ohne zusätzliche Umverpackung aus. Auf Elemente wie Euroloch-Aufhängungen, die in der Handelslogistik hilfreich, im Versandprozess aber hinderlich sind, verzichtet Bosch dabei. Statt Glanzlack und Hochglanzdruck dominiert ein natürliches, nachhaltiges Design aus braunem Recyclingmaterial und reduziertem Farbdruck. Das spart nicht nur Material, sondern signalisiert zugleich Umweltbewusstsein – ein Aspekt, der für Konsumenten zunehmend kaufentscheidend ist.

Nach einer Studie der STI Group aus dem Jahr 2022 legen 99 Prozent der Verbraucher im Onlinehandel Wert auf eine passende Verpackung. Besonders negativ fallen überdimensionierte Kartons mit viel Füllmaterial auf. Jede zweite befragte Person bewerte die Verpackung als Gradmesser für das Umweltengagement eines Händlers. Und nicht nur aus Imagegründen lohne sich die Optimierung: zu große Verpackungen verursachten höhere Transportkosten und unnötigen Lagerbedarf. „Die Verpackung ist im E-Commerce längst kein bloßer Schutzmantel mehr“, heißt es in der STI-Studie. Sie sei Kommunikationsmittel, Nachhaltigkeitssignal und Kostentreiber zugleich. Händler, die Größe, Material und Handhabung im Griff haben, sparen also nicht nur CO₂, sondern stärken auch das Markenimage.

 

Was Händler jetzt investieren müssen

Um die Ziele der Studie umzusetzen, sind laut Supply-Chain- und Logistikberatung „4flow“ vor allem fünf Investitionsfelder entscheidend:


  1. Automatisierung: neue Verpackungsmaschinen (Investitionskosten von bis zu 1 Mio. Euro möglich), Integration ins Warenwirtschaftssystem, Mitarbeiterschulung.
  2. Materialumstellung: Einkauf teurerer, rezyklathaltiger Materialien (Kostensteigerung in Höhe von 10–15 Prozent), Lieferantenaudits.
  3. Mehrweglogistik: Aufbau von Rückführsystemen, Tracking-Software, Pfandmodelle.
  4. Datentechnik: Software für Volumenoptimierung (Kosten zwischen 50.000–150.000 Euro), präzisere Produktdaten.
  5. Kommunikation: Kennzeichnung, Reporting und Kundenkommunikation über Verpackungsoptionen (Kosten in Höhe von 20.000–50.000 Euro).

Doch auch hier gilt: Theorie und Praxis klaffen auseinander. „Kostenseitig ist die Allokation zwischen Sendungsinhalt und Verpackung ebenfalls herausfordernd. Hier kommen die starren Preisstrukturen der KEP-Dienstleister erschwerend hinzu, die eine Variabilisierung ähnlich den Emissionen unmöglich machen. Der hohe Fokus auf das Sendungsgewicht und weite Spannen zwischen den Gewichtsklassen sorgen dafür, dass die Verpackung nur selten in der Praxis einen Unterschied macht“, heißt es in diesem Zusammenhang kritisch in der BVL-/4flow-Studie. Mit anderen Worten: Selbst wenn Händler Material sparen, ändert das am Versandpreis oft nichts. Und wer investiert, spart erst später – wenn überhaupt. In Summe entstehen Investitionen im mittleren sechsstelligen Bereich pro Standort. Der Return on Investment hängt stark von Versandvolumen und Produktportfolio ab.

Da passt es ins Bild, dass DHL Paket zum 1. Januar 2026 die Preise für Geschäftskunden im nationalen und internationalen Versand erhöht. Die Anpassung erfolge individuell, begründet wird sie mit gestiegenen Personalkosten und Investitionen in nachhaltige Logistik. Während Händler ihre Verpackungsprozesse nachhaltiger und effizienter gestalten sollen, ziehen nun gleichzeitig die Transportkosten an. Für Händler bedeutet das: Selbst bei optimierten Verpackungsprozessen bleiben Transport und Zustellung der größte und zunehmend teurere Emissionstreiber im System – und damit der eigentliche Kostenhebel für künftige Effizienzgewinne.

 

Der Flaschenhals liegt im System

Die BVL-/4flow-Studie „Verpackung im E-Commerce nachhaltig gestalten“ plädiert für einen ganzheitlichen Ansatz. Denn die Verpackung verursacht im Durchschnitt nur 10 bis 30 Prozent der Gesamtemissionen einer Sendung; der Transport dominiert mit rund 70 Prozent. Regulierung, die nur auf den Karton zielt, greift also zu kurz. Dennoch bleibt die Verpackung das sichtbarste Symbol für Nachhaltigkeit im E-Commerce. Händler, die hier investieren, punkten bei Kunden – und rüsten sich für die kommenden EU-Vorgaben. Die BVL-Experten warnen jedoch vor blinder Aktivität. Denn am Ende entscheidet weniger das Material als das Management: Datenqualität, Prozessdisziplin und Investitionsbereitschaft. Wer seine Verpackungsstrategie heute digitalisiert und automatisiert, senkt Kosten, CO₂ und Reputationsrisiken zugleich. Wer weiter Pappe faltet wie 1999, werde spätestens 2030 nicht mehr regelkonform liefern dürfen, lautet das zugespitzte Fazit. Nachhaltigkeit im E-Commerce ist kein Kartonproblem, sondern ein Systemproblem. Verpackung, Logistik und IT müssen zusammenspielen – sonst bleibt die grüne Vision Stückwerk. Die gute Nachricht: Die Technik ist da. Die schlechte: Sie kostet. Und wer sie nicht bezahlt, zahlt am Ende doppelt – in Emissionen, in Gebühren und in Kundenvertrauen.

 

Die Verpackungsindustrie steht vor großen Herausforderungen

Die Herausforderungen enden nicht an der Rampe. Sicher ist: Die Verpackungsindustrie steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Laut einer aktuellen Analyse des Hamburger Beratungsunternehmens Apenberg & Partner erlebt der deutsche Markt in den kommenden Jahren eine verstärkte Konsolidierung. Die Marktstudien rund um die Fachpack 2025 prognostizieren, dass Fusionen, Übernahmen und Werkschließungen zunehmen – vor allem bei kleinen und mittelständischen Anbietern. Deren Margen und Wettbewerbsfähigkeit geraten weiter unter Druck, getrieben von steigenden Energie- und Personalkosten, zunehmender Regulierung und einem verschärften Preiswettbewerb sowie unter anderem auch erhöhten Anforderungen aus dem gesamten E-Commerce-Umfeld.

Apenberg erwartet, dass sich der Strukturwandel insbesondere in Segmenten mit sinkender Nachfrage oder hohen Investitionsanforderungen beschleunigt. Technologisch führende oder kapitalstarke Unternehmen werden ihren Vorsprung ausbauen, während kleinere Hersteller vor sehr schweren Zeiten stehen. So ist die Verpackungsfrage – vom Versandkarton bis zur Fabrikhalle – letztlich der Gradmesser der Zukunftsfähigkeit einer ganzen Branche.

 

Von Matthias Mahr, Lebensmittel Praxis