• 22.10.2025
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Neuer Mindeststandard 2025: Orientierung oder Irrweg?

Der Mindeststandard für recyclinggerechte Verpackungen gilt als zentrales Instrument zur Förderung der Kreislaufwirtschaft – doch seine Basis ist nicht unumstritten. Die neue Ausgabe 2025 zeigt: Zwischen politischem Anspruch, technischer Machbarkeit und rechtlicher Umsetzung klafft oft eine deutliche Lücke.
Ballen aus recycelten Verpackungsabfällen
Der neue Mindeststandard 2025 definiert die Kriterien für recyclinggerechte Verpackungen neu und sorgt in der Branche für intensive Diskussionen.

Im August hat die Zentrale Stelle Verpackungsregister (ZSVR) im Einvernehmen mit dem Umweltbundesamt (UBA) die Ausgabe 2025 des Mindeststandards für recyclinggerechte Verpackungen veröffentlicht. Während die ZSVR betont, dass die „aktuelle Ausgabe 2025 auf Wunsch der Praxis weiterentwickelt wurde und sich bereits an der Systematik der Europäischen Verpackungsverordnung (PPWR) orientiert“, sehen viele Marktteilnehmer nach wie vor erheblichen Klärungsbedarf. Kritiker bemängeln, dass politische Zielvorgaben zunehmend den technischen Realitäten widersprechen – so auch Till Isensee, Gründer & Inhaber der Verpackungs- und Nachhaltigkeitsberatung TILISCO GmbH.

 

„Mindeststandard“ – ein irreführender Begriff?

„Das Wort ‚Mindeststandard‘ suggeriert, dass es sich um einen technisch standardisierten Prozess handelt – also um klare, einheitliche Bewertungsmethoden. Doch das ist nicht der Fall. Dieselbe Verpackung kann bei unterschiedlichen Zertifizierern völlig unterschiedliche Ergebnisse erzielen: von sehr gut recyclingfähig bis nicht recyclingfähig“, sagt Isensee. Damit verweist er auf ein Kernproblem, das in der Praxis für erhebliche Verunsicherung sorgt: Die fehlende Vergleichbarkeit der Bewertungsverfahren und den daraus abgeleiteten Zertifikaten.

Die ZSVR erklärte auf Nachfrage von FACHPACK360° dass für die Ausgabe 2025 der Expertenkreis nochmals erweitert wurde, „unter anderem um mittelständische Unternehmen, zusätzliche Systembetreiber und Vertreter des Forums Rezyklat“. Außerdem sei der Stand der Diskussion im CEN (Europäisches Komitee für Normung) in Bezug auf die Bewertung der Recyclingfähigkeit eingeflossen. „So wurde eine umfassende Einbindung der verschiedenen Sichtweisen bei der Umarbeitung gewährleistet. Die fachliche Grundlage für die Definition von Unverträglichkeiten und Recyclinggrenzen bildet die jeweils aktuelle UBA-Studie „Praxis der Sortierung und Verwertung“ von Verpackungen. Sie beschreibt, welche Verpackungen tatsächlich sortiert und werkstofflich verwertet werden können”, betont die ZSVR. Die Studie werde regelmäßig aktualisiert, sodass technische Weiterentwicklungen sowie der Ausbau von Sortier- und Verwertungskapazitäten fortlaufend berücksichtigt werden. 

 

Fehlende rechtliche Grundlage

Till Isensee stellt dagegen die rechtliche Grundlage des Mindeststandards grundsätzlich infrage. „Der Mindeststandard basiert auf § 21 VerpackG, der ein Bonus-Malus-System für recyclinggerechte Verpackungen vorsieht. Da dieser Paragraph jedoch nie umgesetzt wurde, fehlt die rechtliche Grundlage – der Mindeststandard findet nur daher in der Breite Anwendung, weil der Handel Ihn als Bemessungsgrundlage für die Bewertung der Recyclingfähigkeit für eine Listung voraussetzt und weil es tatsächlich keine bessere technische Grundlage zurzeit gibt. „Ich bin großer Fan des Mindeststandards an sich“ so Isensee, „nur im Detail muss nachgearbeitet werden!“  

Mit anderen Worten: Der Standard steht juristisch auf wackeligen Füßen. Das geplante Anreizsystem, das eigentlich finanzielle Vorteile für besonders recyclingfreundliche Verpackungen schaffen sollte, existiert bis heute nicht. Allerdings kommt man aus den genannten Gründen, nicht an Ihm vorbei. 

 

Streitpunkt Verbundverpackungen

Besonders umstritten bleibt die Bewertung von Verbundverpackungen. In der offiziellen Begründung heißt es, diese Verpackungstypen „bereiteten weiterhin Sorgen“ und seien nur schwer zu recyceln. Als Hauptursachen nennt die ZSVR fehlerhafte Vorsortierung und unzureichende Mülltrennung durch Verbraucherinnen und Verbraucher.

Isensee widerspricht entschieden: „Dass faserbasierte Verbundverpackungen generell Probleme im Recycling verursachen würden, stimmt so nicht“. Er stützt sich dabei auf Forschungsergebnisse und verweist auf eine Masterarbeit (‚Unterschied zwischen politischer und technischer Recyclingfähigkeit‘), die er gemeinsam mit der TU Berlin betreut hat. Das Ergebnis war laut Isensee eindeutig: „Für alle Verpackungen, die im Mindeststandard als ‚unverträglich‘ oder ‚nicht recyclingfähig‘ eingestuft sind, konnten wir technische Lösungen nachweisen, die deren Recycling sehr wohl ermöglichen.“

Unterstützung erhält er von der INGEDE – der Interessenvertretung der Papierrecycler und De-Inker in Deutschland. Eine von ihr beauftragte Studie habe gezeigt, „dass über die Hälfte dieser Verbundverpackungen in der blauen Tonne landet – und dann auch tatsächlich recycelt werden“.

Auch Sonja Bähr, Director Business Development bei BPC Berndt+Partner Creality, sieht die Einordnung funktionaler Papiere kritisch: „Durch die Einordnung als Unverträglichkeit, wird ihnen pauschal zunächst einmal die Recyclingfähigkeit aberkannt. Hier ist die Handschrift der Lobbyisten deutlich erkennbar, die sich permanent gegen papierbasierte Verbundverpackungen als Ersatz für Kunststoffverpackungen aussprechen.” Sie ergänzt allerdings, dass insbesondere die Papierfolienverbunde, die von beiden Materialien keinen relevanten Anteil aufweisen nach wie vor als problematisch einzustufen seien, da sie überwiegend aus Marketinggesichtspunkten eingesetzt würden und „dem Verbraucher Nachhaltigkeit suggerieren, es jedoch nicht sind, weil keines der Materialien mit genügender Menge zurückgewonnen werden kann und nur das Papier alleine nicht die notwendigen Schutzfunktionen liefert”.     

Laut ZSVR erfolgt die Einordnung faserbasierter Verbundverpackungen dabei nicht pauschal, sondern auf Grundlage objektiv, nachvollziehbarer Maßstäbe. Maßgeblich für die Einordnung bei der Bewertung sei zudem die Ergebnisse der UBA-Studie „Praxis der Sortierung und Verwertung.  Andere Studien würden von der ZSVR berücksichtigt, fließen jedoch nicht unmittelbar in die Bewertung ein, da deren methodische Ansätze und Datengrundlagen im Einzelnen nicht überprüfbar sind. 

 

95-5-Regel: Wirtschaftliche statt ökologische Optimierung

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die sogenannte 95-5-Regel, die in der Praxis häufig als Referenzgröße für die Recyclingfähigkeit herangezogen wird. 

Hersteller versuchen seit Jahren, den Anteil nicht-papierbasierter Komponenten unter fünf Prozent zu senken. Doch laut Isensee hat diese Grenze nichts mit Recyclingfähigkeit zu tun, sondern ausschließlich mit der Lizenzierung nach dem Verpackungsgesetz: Unter fünf Prozent werden Papierpreise (ca. 120–150 €/t) fällig, über fünf Prozent dagegen 600–800 €/t. In der Praxis seien es eher geringere Foliendicken, die in den Papierwerken für technische Probleme sorgen würden. Dickere Folien seien dagegen leichter zu trennen. „Die Industrie optimiert also nicht die Recyclingfähigkeit, sondern vor allem die Lizensierungskosten“, sagt Isensee. Damit, so seine Kritik, habe sich ein System etabliert, das ökonomische Anreize setzt, aber ökologische Verbesserungen kaum fördert. 

 

Unverträglichkeiten sorgen für Unruhe

Für zusätzlichen Gesprächsstoff sorgt eine neue Passage im Mindeststandard: Unter dem Punkt „Unverträglichkeiten“ wurden Vorgaben aufgenommen, die in der Praxis weitreichende Folgen hätten. „Jede Beschichtung – ganz gleich, ob aufgedruckt oder aufgetragen – gilt nun als Unverträglichkeit“, erläutert Isensee. „Das sorgt derzeit für erhebliche Unruhe in der Branche, weil diese Definition ohne Abstimmung mit den betroffenen Akteuren erfolgt ist. Sie ist inhaltlich falsch und hätte in letzter Konsequenz zur Folge, dass wir viele unserer Produkte gar nicht mehr herstellen oder in Verkehr bringen dürften.“

Die neue Regelung trifft vor allem Papierverarbeiter und Hersteller faserbasierter Verbunde, die mit dünnen Barriereschichten arbeiten. Aus Branchensicht droht hier ein Widerspruch zwischen ökologischer Intention und technischer Realität.

 

Faktisch verbindlich – aber ohne Gesetzeskraft

Trotz aller Kritik bleibt der Mindeststandard für viele Unternehmen relevant – wenn auch nicht aus juristischen, sondern aus praktischen Gründen. Eine gesetzliche Verpflichtung, ihn einzuhalten, besteht nicht. Doch der Handel fordert den Nachweis der Recyclingfähigkeit – und orientiert sich dabei am Mindeststandard.

Wer an große Handelsketten liefern will, kommt also kaum daran vorbei, seine Verpackungen nach diesen Kriterien bewerten zu lassen. Damit hat sich der ursprünglich freiwillige Leitfaden längst zu einem faktischen Industriestandard entwickelt – auch ohne gesetzliche Verankerung.

 

Autor: Alexander Stark, Redakteur FACHPACK360°