„Wir haben bei der Bürokratisierung den Kipppunkt erreicht“
10.11.2023 Insights Interview

„Wir haben bei der Bürokratisierung den Kipppunkt erreicht“

Der Unternehmer und Mitbegründer des Packaging Valley, Claus Paal, möchte als Präsident der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart Lösungen für einen Bürokratieabbau anstoßen und hat dafür den Bürokratie-Check gestartet. Im exklusiven Interview mit FACHPACK 360° erzählt er, warum er dies für dringend nötig hält.

Claus Paal, Präsident der IHK Region Stuttgart, hat die Kampagne „Bürokratie-Check Claus Paal, Präsident der IHK Region Stuttgart, hat die Kampagne „Bürokratie-Check" gestartet.

Sie sind seit 1. Juli 2023 ehrenamtlicher IHK-Präsident in der Region Stuttgart und haben in dieser Funktion gleich einen Bürokratie-Check gestartet. Warum?

Paal: Ich rede schon seit rund 20 Jahren über das Thema Bürokratie. Und ich habe seit Längerem aufgehört, nur zu schimpfen, denn das tun viele und das natürlich zu Recht. Wir sind uns alle einig, keiner will ein Mehr an Bürokratie und trotzdem erreichen wir das Gegenteil. Von 2011 bis 2021 habe ich als CDU-Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg ebenfalls nach Lösungen gesucht und zum Beispiel den Normenkontrollrat mit ins Leben gerufen. Dieses unabhängige Expertengremium unterstützt die Landesregierung dabei, den Bürokratieaufwand zu verringern. Als ich bei der letzten Wahl nicht mehr für den Landtag kandidierte und als mittelständischer Unternehmer zurück in die Verpackungsbranche ging, hat mich entsetzt, wie stark die Bürokratie in zehn Jahren zugenommen hat. Aus Sicht der Wirtschaft kann ich sagen: Wir haben einen Kipppunkt erreicht. Es ist schlimmer geworden, und ich spüre leider eine Resignation unter vielen Unternehmern. Resignation dürfen wir nicht zulassen, ich möchte etwas gegen den Bürokratiewahn tun.

Bürokratie und Fachkräftemangel sind die größten Wachstumshemmnisse. Die Themen gehören zusammen. Aktuell spüren wir doch alle, dass wir die Fachkräfte gar nicht mehr haben, um die Bürokratie abzuarbeiten, die wir selbst geschaffen haben. Provokativ könnte man sagen: Wir benötigen mehr Ingenieure, weniger Juristen.

Und was wollen Sie konkret tun?

Dieser Bürokratie-Check ist eine ganz einfache, formlose Umfrage unter Mitgliedern der IHK Region Stuttgart. Jeder – auch von außerhalb unserer Region – kann uns sein Beispiel oder Fälle von bürokratischen Hürden per Mail an eine spezielle Mailadresse senden. Wir werden die uns geschilderten Einzelfälle nicht einzeln auswerten, sondern wollen aus der Summe aller Eingebungen mithilfe eines neuen KI-Tools Cluster bilden, um systematische Lösungen zu erarbeiten. Statt den Problemen, die täglich größer werden, hinterherzurennen, möchte ich vor die Lage kommen und an die Ursachen herangehen. Wir machen das, damit es wenigstens nicht noch schlimmer wird. Die Bürokratisierung werden wir nicht mehr aufhalten können. Während wir zwei hier im Interview miteinander reden, wird in Brüssel bereits an einer neuen Verordnung gearbeitet, die wir erst bemerken, wenn sie hier in einigen Jahren aufschlägt.

Sie haben noch keine Ergebnisse aus dieser Befragung. Aber können Sie sagen, was die Unternehmer in der Verpackungsbranche am meisten stört?

Grundsätzlich sind alle Branchen gleichermaßen betroffen. Dieses Klein-Klein im Detail macht keinen Sinn mehr. Man muss so oft irgendwelchen Formularen hinterlaufen, um die einfachsten Dinge zu regeln. Manche Verfahren sind einfach unnötig. Ein Beispiel: warum muss ein Unternehmen regelmäßig die Führerscheine seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Firmenfahrzeuge fahren, kontrollieren? Für Führerscheinkontrollen haben wir die Polizei. Nur uns genügt das mal wieder nicht.

Ein anderes Beispiel aus der Verpackungsbranche: derzeit gibt es in der Bundespolitik Überlegungen, zu verbieten, dass bei gleichen Preisen Verpackungsinhalte reduziert werden. Versteckte Preiserhöhungen also. Hat sich jemand überlegt, wie das konkret durchgeführt werden soll? Müssen unsere Kunden dann bei jeder Veränderung der Verpackung Nachweise erbringen? Auch wenn sie technisch begründet sind? Auch wenn sie verkaufsfördernd sein sollen? Wir haben aufgeklärte Verbraucher. Jeder entscheidet selbst, was er einkauft. Deshalb müssen wir nicht die letzten Reste unternehmerischer Freiheit verbunden mit dem unternehmerischen Risiko abschaffen. Unsere Soziale Marktwirtschaft ist sicher nicht immer perfekt, aber sie funktioniert.

Viele Verbote oder Verfügungen dienen doch dem Klimaschutz?

Dass wir in der Sache beim Klima- und Umweltschutz schneller werden müssen, steht außer Frage. Das trage ich als IHK-Präsident mit. Wir müssen Mehrwegquoten steigern und akzeptieren, dass das Ende des fossilen Zeitalters begonnen hat. Wege in die Klimaneutralität zu definieren und den Weg zu beschreiten, ist für mich selbstverständlich. Und schon wieder ist geregelt, dass jeder, der diesen Weg beschreitet, aber Fehler bei Formulierungen oder Werbung dafür macht, abgemahnt werden kann. Es ist also risikoloser, Werbung für Klimaschutz einzustellen. Tut man damit dem Klimaschutz einen gefallen? Ich kenne noch viel mehr Beispiele, wie wir Dinge regeln, bevor wir überhaupt begonnen haben, die Chancen zu sehen. So stehen wir bei der Nutzung der KI am Anfang einer Entwicklung, die riesige Chancen bietet. Und schon wieder diskutieren wir zuerst die Risiken und regeln alles.

Was kann jetzt schon getan werden?

Die Digitalisierung kann und wird helfen, den Fachkräftemangel zu bekämpfen und unsere Verfahren zu beschleunigen. Und wir können dabei von anderen Ländern lernen. Ich bin viel in Asien unterwegs, da gibt es zahllose Beispiele, aber auch in Estland sind erfolgreiche Modelle eingeführt worden, die wir zum Teil oder ganz übernehmen könnten. Es muss nicht immer alles neu in Deutschland dafür erfunden werden. Also: Best-Practice-Beispiele anschauen und übernehmen, anstatt alles neu zu machen, im Zweifel bürokratischer.
Ich hoffe, dass wir Anfang 2024 die ersten Ergebnisse aus der Befragung präsentieren können. Verbunden mit konkreten Ansätzen, wo etwas geschehen muss. Wir werden diese Ansätze dann unmittelbar in den Normenkontrollrat einbringen.

 

Zur Person:
1993 übernahm der Diplom-Ingenieur Claus Paal das Unternehmen seines Vaters – die 1965 gegründete PAAL Verpackungsmaschinen GmbH. Ende 2010 zog sich Paal aus dem inzwischen umbenannten und verkauften Unternehmen zurück. Heute ist er Geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Claus Paal GmbH sowie Geschäftsführender Gesellschafter der A + V Automation und Verpackungstechnik GmbH. Von 2011 bis 2021 war er als CDU-Mitglied Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg.