• 19.05.2025
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Die Uhr tickt – Warum die Verpackungsbranche jetzt handeln muss

Die europäische Verpackungsverordnung (PPWR) soll zum Meilenstein einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft werden. Ab 2030 greifen Einsatzquoten für Rezyklate – Stand heute können sie nicht erfüllt werden. Was als ökologischer Fortschritt gedacht ist, droht in der Praxis zum Stresstest für Hersteller, Handel und Verbraucher zu werden. Massive Marktverwerfungen könnten die Folge sein – besonders in der Packmittelindustrie.

Zerkleinerte Plastikflocken strömen aus einem dicken Schlauch vor dunklem Hintergrund
Der Einsatz von Recyclingmaterial in Verpackungen gilt als zentraler Baustein der PPWR – doch es mangelt an Infrastruktur, Verfügbarkeit und praktikablen Lösungen für viele Hersteller.

Branchenexperten warnen vor Überforderung, Marktverzerrung und drohendem Versorgungsengpass. Noch tun sie das meist hinter vorgehaltener Hand. Die neue europäische Verpackungsordnung offenbare eine Realitätsferne, die zur Zerreißprobe für die gesamte Wertschöpfungskette werden könne, ist immer wieder zu hören.

„Wenn Verpackungshersteller erst 2028 aufwachen, werden sie vom Markt verschwinden", warnt eine Expertin im Gespräch mit der Lebensmittel Praxis. Die Beraterin spricht aus, was viele Marktteilnehmer auf Nachfrage bestätigen: Kleine und mittlere Verpackungshersteller werden durch die PPWR unter regulatorischen und wirtschaftlichen Druck gesetzt, den sie kaum bewältigen können. Rezyklatquoten, Minimierungspflichten bei Verpackungen und technische Anforderungen seien richtig gedacht, aber praxisfern geplant, heißt es nicht nur in der Verpackungsindustrie, sondern auch bei Lebensmittelherstellern und im Lebensmitteleinzelhandel. „Die Quoten werden für 2030 eingefordert, obwohl die Recyclingmaterialien gar nicht da sein werden. Das steht bereits jetzt bei genauerer Betrachtung mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent fest“, betont der Geschäftsführer eines mittelständischen Verpackungsunternehmens.

Ein Blick in den Recyclingmarkt zeigt: Obwohl die Recyclingquote für die Leichtverpackungen aus der Gelben Tonne 2023 bei annähernd 70 Prozent liegt und damit die gesetzlichen Vorgaben in Deutschland bereits überfüllt werden, reicht das gesammelte Material hinten und vorne nicht. Für Deutschland erwartet die Branche für 2030 eine Unterdeckung in Höhe von 1 Millionen Tonnen Rezyklat, in Europa beträgt die Rezyklat-Lücke in Summe sogar geschätzt rund 3,5 Millionen Tonnen. Auf den Punkt bringt das die Conversio-Studie im Auftrag der Beteiligungs- und Kunststoffverwertungsgesellschaft (BKV): Die Untersuchung prognostiziert eine gravierende Rezyklat-Lücke von etwa 30 Prozent bis 2030 in Deutschland, sofern nicht massiv in die Recyclinginfrastruktur investiert und der Fokus auf weitere Abfallströme ausgeweitet werde. Doch das ist aktuell mehr als unwahrscheinlich.

Dr. Carl Dominik Klepper, Geschäftsführer vom Verband Allianz Verpackung und Umwelt (AVU) zeigt sich ebenso skeptisch: „Der Einsatz von Rezyklaten in Lebensmittelverpackungen ist mit den derzeitigen technischen Möglichkeiten kaum flächendeckend umsetzbar.“ PET aus dem Pfandsystem sei knapp, EFSA-konforme Recyclingkapazitäten für andere Anwendungen existierten kaum. Die mögliche Folge: Marktverwerfungen zugunsten der multinationalen Konzerne, die sich schon jetzt Zugänge zu Rezyklaten sichern. Die EFSA als europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit spielt eine zentrale Rolle bei der Bewertung und Zulassung von Materialien, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen, insbesondere bei Lebensmittelverpackungen. Nach Meinung vieler Experten dauern die EFSA-Genehmigungsverfahren im Hinblick auf die PPWR zu lang. Dabei wäre Schnelligkeit derzeit gefordert, damit neue Recycling-Technologien und innovative Packstoffe sowie -mittel auf den Markt kommen. 

Aus dem Handel kommen vergleichbare Stimmen. Die Probleme seien real, heißt es da aus einer Zentrale. Die Vorgaben aus der PPWR – zum Beispiel der verpflichtende Rezyklateinsatz bis 2030 – werden als ambitioniert bezeichnet.

Gerade im Bereich PET ist derzeit die Lage besonders angespannt, weil das meiste Material für den Getränkebereich reserviert ist. Kontaktsensitive Anwendungen wie Wurst- oder Käseverpackungen dürfen aber nur Rezyklat aus definierten Strömen nutzen – also entweder aus dem Flaschenpfandsystem oder aus lückenlos rückverfolgbaren Tray-to-Tray-Systemen. Genau dort liegt der Engpass. Es gibt europaweit nur eine Handvoll Anbieter, die Tray-to-Tray-Recycling in EFSA-konformer Qualität leisten können. Gleichzeitig sichern sich viele große Player das hochwertige Material, färben es zum Teil ein, damit es nicht mehr für andere Anwendungen wie Fleisch oder Käse nutzbar ist. Das ist aus Nachhaltigkeitssicht ein Irrsinn. Der Verteilungskampf um saubere Rezyklate hat begonnen. 

Und es wird noch absurder:  Wenn PET-Rezyklat, das für den Lebensmittelkontakt zugelassen ist, durch Downcycling zweckentfremdet wird. Immer noch landet PET aus dem Pfandsystem in Non-Food-Anwendungen – und ist damit für Lebensmittel-Verpackungen für immer verloren.

 

Keine gerechter Verteilungsmechanismus für knappes Rezyklat

Wenn Rezyklatmengen 2030 erwartbar fehlen, dann steigt der Preis und die Stärkeren werden gewinnen. Die Macher der PPWR haben nach Meinung unterschiedlichster nicht an alle Eventualitäten gedacht. „Es gibt keine Verteilungslogik für die vorhandenen Mengen“, prangert ein Verpackungsberater an. Was er damit meint? Wer zu spät komme, gehe leer aus – das sei die unausgesprochene Maxime der Branche. „Selbst wenn ein kleiner Hersteller sich bemüht: Wenn die multinationalen Marken Rezyklate kaufen wollen, bekommen sie den Zuschlag“, sagt er. Diese Marktlogik hätte bekannt sein müssen.

Und auch die Handelsketten stehen vor einem Dilemma. Eine Nachhaltigkeitsmanagerin aus dem Lebensmitteleinzelhandel berichtet: „Ich muss unter Umständen mit vier Stakeholdern gleichzeitig sprechen, um einen einzigen Verpackungskreislauf aufzubauen. Immer noch zu viele wissen nicht einmal, dass sie als Verpackungshersteller von der PPWR betroffen sind.“ Es fehle noch immer an Aufklärung, an Beratung, an realistischen Zeitplänen. „Selbst wir als große Handelskonzerne schaffen das nur mit spezialisierten Teams. Wie sollen das kleinere Player stemmen?“

Jurist Prof. Dr. Gottfried Jung , Kunz Rechtsanwälte Mainz, sieht in der Praxisumsetzung erhebliche Hürden. „Die Verpackungsverordnung erlaubt theoretisch Flexibilität. Doch ohne frühzeitige Abstimmung zwischen Industrie, Recyclingwirtschaft und Gesetzgeber droht ein Flickenteppich aus Ausnahmegenehmigungen und faktischer Rechtsunsicherheit." Jung kann sich durchaus eine Welle an rechtlichen Auseinandersetzungen in den kommenden Jahren vorstellen – etwa wegen ungleicher Anforderungen für unterschiedliche Materialien oder unverhältnismäßiger Sanktionen innerhalb der EU.

 

Die Verpackungshersteller müssen jetzt handeln!

Der Jurist und Verpackungsverordnungsexperte ruft die mittelständischen Unternehmen der  Verpackungsindustrie zum Handeln auf. Jung betont, dass die delegierten Rechtsakte zur PPWR von der EU-Kommission in Zusammenarbeit mit Sachverständigen der Mitgliedstaaten jetzt entwickelt werden. Unternehmen, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, sollten frühzeitig ihre Interessen gegenüber der Bundesregierung und der Kommission äußern. Jung empfiehlt, insbesondere auf die Auswahl von Sachverständigen zu achten, die auch die Perspektive mittelständischer Unternehmen angemessen vertreten können. Für kleine und mittlere Verpackungsunternehmen bedeute dies konkret, dass sie vor großen Herausforderungen stehen würden, so Jung. Die Anforderungen der PPWR, wie etwa Mindestrezyklatanteile oder recyclinggerechte Gestaltung, könnten gerade für kleinere Unternehmen finanziell und logistisch schwierig zu erfüllen sein. Da größere Unternehmen leichter Zugang zu ausreichenden Mengen an Rezyklaten haben könnten, droht auch seiner Meinung nach mittelständischen Unternehmen eine Benachteiligung oder sogar eine Marktzugangsbeschränkung, wenn sie diese Vorgaben nicht erfüllen können. Auch der Jurist sieht die Gefahr, dass große Unternehmen durch ihre Marktmacht bevorzugt Einfluss nehmen könnten. Deshalb sei es umso wichtiger, dass sich kleine und mittlere Unternehmen frühzeitig organisierten, ihre Anliegen artikulierten und gezielt auf politische Entscheidungsträger zugehen müssten.

Kritik an der PPWR übt auch Tom Ohlendorf vom World Wide Fund for Nature (WWF).   Der Senior Manager Circular Economy mit Fokus auf Packaging sagt: „Die Zielvorgaben sind mit dem aktuellen Sammel- und Sortiersystem nicht zu erreichen. Wir brauchen neue Inputströme und technische Standards – und zwar schnell.“ Er fordert zudem einen Überblick über die europäische Verteilung: „Was in Spanien im Gelben Sack landet, unterscheidet sich massiv von dem in Deutschland. Das ist keine Harmonisierung, das ist Zufall.“ Ohlendorf kritisiert zudem: „Alle in der EU-Verpackungsverordnung aufgeführten Vorgaben sollten materialübergreifend erfolgen. Sonderziele für Kunststoffe und Ausnahmen für andere Verpackungsmaterialien führen zu ungewollten Verlagerungseffekten und Zielkonflikten. Ein Beispiel hierfür ist der Trend zu papierbasierten Verbundverpackungen“. Papier sei nicht zwingend ökologisch vorteilhafter. Ein einfacher Austausch von Kunststoff durch Papier reiche nicht aus, um den Anstieg des Verpackungsmülls zu bekämpfen. Ziel müsse es sein, Ressourcenflüsse insgesamt zu reduzieren und zu verlangsamen sowie Materialkreisläufe zu schließen. „Oberste Priorität müssen die Vermeidung und optimierte Mehrwegsysteme haben“, lautet sein Fazit.

Besonders heikel bleibt die Bewertung der Recyclingfähigkeit. Eine Beraterin aus der Verpackungsbranche warnt beim Blick in die nahe Zukunft: „2030 werden 50 Prozent der heutigen Produkte nicht mehr im Regal stehen, weil sie als nicht recyclingfähig gelten – darunter viele Kleinstverpackungen wie Lippenstifte oder Klebestifte.“ Der Grund: Sie seien zu klein für Sortieranlagen. Sie nennt das einfach nur „absurd“. Auch Artikel 10 zur Verpackungsminimierung bringe in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten mit sich. „Verpackungen werden nicht größer oder schwerer, weil wir es lustig finden, sondern weil es logistische, technische und hygienische Anforderungen gibt", betont sie. Zudem seien Maschinenumstellungen mit Millioneninvestitionen verbunden. Und viele Produktionslinien, insbesondere bei schnelllaufenden Verpackungen im Food-Bereich, ließen sich nicht ohne weiteres umbauen. Bei den PPWR-Machern fehle das Verständnis für industrielle Abläufe. Das sitzt!

 

Planwirtschaftliche Ansätze killen Innovationen

Hinzu kommt der Vorwurf der Entdifferenzierung. „Die PPWR steuert auf eine Art sozialistische Verpackung zu", überspitzt eine anderer Verpackungsspezialist. Gemeint sind damit gesetzlich standardisierte Einheitsformate für Verpackungen ohne Differenzierung – ob für Marken-Whisky oder Discounter-Wodka. „Wenn alles gleich aussieht, verliert die Marke ihre Kraft, und der Kunde greift zur billigeren Eigenmarke.“

Die Folgen der europäischen Verpackungsverordnung reichen längst bis in die Vertriebslogik des Handels. „Je höher die Anforderungen, desto mehr lohnt sich Vertikalisierung“, heißt es hier. Lidl mache es mit Prezero bereits vor. „Wer die Kreisläufe kontrolliert, kontrolliert am Ende den Zugang zum Markt“, sagen Marktbeobachter wie Prof. Carsten Kortum von der Dualen Hochschule in Heilbronn. Immer öfter übernehmen Handelsunternehmen die Entwicklung von Verpackungslösungen selbst – oder kaufen Packmittelhersteller direkt auf. „Das ist völlig logisch", betont die Verpackungsberaterin, „denn die Verpackung entscheidet letztlich über die Produktverfügbarkeit“. Wer sich Rohstoffe, Maschinen und Know-how sichert, gewinnt die Hoheit über das Regal – spätestens 2030.

Gleichzeitig wächst der Druck auf klassische Markenhersteller. „Wenn die Verpackung nicht mehr differenziert, verliert das Markenprodukt seinen Mehrwert“, sagt eine Handelsmanagerin. Handelsmarken sind dann im Plus. Studien belegen, dass Verbraucher in Zweifelsfällen längst zur günstigen Eigenmarke greifen – vor allem, wenn sie optisch ähnlich zum Markenpendant auftritt. Die PPWR könnte diese Dynamik versehentlich noch beschleunigen.

Der Vorwurf der Planwirtschaft steht im Raum. Zu viele Anforderungen, zu wenig Infrastruktur, zu viel Symbolpolitik. „Das ist ein Innovationskiller“, bringen das mehrere Beobachter auf den Punkt. Sie fordern einen realistischeren Zeitplan, klar definierte Ausnahmeregeln und vor allem: Verstand statt Verordnung.

Das Fazit einer Branchenkennerin soll als Weckruf dienen: „Eine Verordnung wie die PPWR ist richtig und notwendig – aber sie darf nicht dazu führen, dass nur noch die Großen überleben“. Die kleinen und mittleren Unternehmen der Verpackungsindustrie müssen jetzt handeln, wenn Sie 2030 lieferfähig bleiben wollen. Die Uhr tickt. Es ist bereits fünf vor zwölf!

Gastbeitrag von Matthias Mahr